Tickende Zeitbombe an den Aktienmärkten: Hilft Robinhood wirklich den Armen?
von Christian Kreiß
Seit Anfang 2020 hat an den Aktienbörsen eine kleine Revolution stattgefunden. Das Wall Street Journal spricht davon, dass nicht-professionelle Kleinanleger die Finanzmärkte umstülpen. Schlagzeilen zu bizarren Kurssprüngen bei kleinen, unbekannten Aktienunternehmen wie dem Computerspielverkäufer GameStop oder der Kinokette AMC sorgten auch in Deutschland Anfang 2021 für Schlagzeilen. Heerscharen von jungen, unerfahrenen, mehrheitlich männlichen Kleinanlegern stürmen an die Börsen.
Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden in den USA über 10 Millionen neue Börsenhandels-Kundenkonten eröffnet. Kleinkunden haben in diesen sechs Monaten netto 140 Milliarden US-Dollar an die Aktienbörsen fließen lassen. Das entspricht einem Zuwachs von 33 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr 2020 und einer Versechsfachung gegenüber den ersten sechs Monaten 2019. Der Anteil von Kleinanlegern am Börsenhandelsvolumen hat sich auf über 20 Prozent verdoppelt, in der Spitze betrug er Anfang 2021 26 Prozent.
Auch in Deutschland haben Börsenanlagen einen stürmischen Aufschwung erlebt Die Anzahl der Menschen, die nun mit Aktien bzw. Wertpapieren an der Börse handeln, hat allein 2020 um 28 Prozent auf 12,7 Millionen zugenommen. Haupttreiber waren junge Männer aus den westlichen Bundesländern mit Beträgen von unter 2.000 Euro.
Hintergründe
Was ist geschehen? Das Schlagwort dazu heißt "Neo-Broker". Bekannte Unternehmensnamen dazu in den USA sind Robinhood und E*Trade, in Deutschland Trade Republic, Scalable Capital, Gratisbroker, Smartbroker oder JustTrade. Diese neuen Aktienhandelsunternehmen haben in der Tat eine Revolution im Aktienhandel bewirkt. Während früher die Gebühren für Aktienkäufe bei etwa 10 US-Dollar pro Transaktion (Kauf oder Verkauf) lagen, bieten die neuen Broker Käufe und Verkäufe von Wertpapieren meistens zum Nulltarif an.
Außerdem haben sie die Handhabung bzw. die Benutzeroberflächen so stark vereinfacht, dass nun jeder Mensch mit wenigen Klicks von seinem Smartphone aus Wertpapiere in Sekundenschnelle kaufen und verkaufen kann. Die dramatische Kostensenkung wurde durch neuen Technologien, neue Software, Smartphone und Internet ermöglicht. Auch etablierte Börsenbroker wie Charles Schwab mussten ihre Gebühren nach dem Frontalangriff durch die Neo-Broker auf null senken.
Dazu kommen als weitere Treiber die extrem niedrigen Zinsen, die viele Anleger in höher rentierliche Papiere drängen sowie die Lockdowns. Zum einen führten die staatlichen Zwangsschließungen vieler Betriebe zu hoher Arbeitslosigkeit und viel freier Zeit. Das hat einige junge Menschen in den Zeitvertreib Börsenspekulation getrieben. Zum anderen wurde ein beachtlicher Teil der staatlichen Unterstützungszahlungen von vielen Menschen dazu genutzt, das verfügbare Geld in Börsenspekulationen zu stecken. Eine Umfrage der Deutschen Bank ergab, dass in den USA die Empfänger von Unterstützungszahlungen etwa 40 Prozent der Gelder an der Börse investieren wollten.
Allein durch die Unterstützungszahlungen der US-Regierung unter Präsident Joe Biden ab März 2021 sollten nach damaligen Schätzungen der Deutschen Bank 170 Milliarden US-Dollar zusätzlich an die Börse fließen. Die Prognose beginnt sich mittlerweile zu bewahrheiten. Allein im Juni 2021 haben Individualinvestoren laut Wall Street Journal netto für 28 Milliarden Dollar Aktien und ETFs gekauft, das ist der höchste derartige Zufluss seit mindestens 2014. Dies sind durchaus Beträge, die Einfluss auf die Kursentwicklung der Aktien nehmen können, auch wenn sie im Vergleich zu den Beständen – das gesamte Aktienvermögen der US-Bürger wird auf 37.390 Milliarden Dollar geschätzt – gering erscheinen.
Robinhood
Bahnbrecher und Marktführer in den USA mit einem Marktanteil von derzeit etwa 4 Prozent am gehandelten Aktienumsatz ist Robinhood Markets Inc. Das Unternehmen will demnächst mit einem IPO selbst an die Börse gehen. Der Marktwert wird auf 20 bis 40 Milliarden US-Dollar geschätzt. Robinhood wurde 2013 von zwei Standford-Absolventen gegründet, die die überhöhten Provisionsgebühren im Aktienhandel zu Recht für überholt ansahen.
Der Top-Slogan von Robinhood lautet: "Unsere Mission ist, Finanzanlagen für alle zu demokratisieren." Ein anderer prominenter Marketing-Spruch heißt: "Participation is Power. At Robinhood, the rich don’t get a better deal." ("Beteiligung ist Macht. Bei Robinhood bekommen auch die Reichen keinen besseren Deal"). Das Unternehmen wendet sich also ganz explizit und mit großem Erfolg an Kleinanleger, Neueinsteiger und vor allem junge Menschen unter 35 als Hauptkundensegment. Das Durchschnittsalter der Kunden liegt um die 30 Jahre.
Die von Robinhood verwalteten Depots belaufen sich auf etwa 80 Milliarden US-Dollar. Der Kundenstamm wird Ende März 2021mit 18 Millionen angegeben. Der Durchschnittsbetrag der auf den Konten bzw. in den Depots liegenden Wertpapiere ist, verglichen mit herkömmlichen Broker-Konten, gering. Er liegt zwischen 1.000 und 5.000 Dollar, im Durchschnitt bei 3.500 Dollar.
Neukunden werden geschickt mit einem kleinen Aktiengeschenk im Lotterieprinzip geködert, es gibt Prämien, wenn man Freunde und Bekannte wirbt, sehr niedrige Kreditzinsen, die über das Wertpapierdepot abgesichert werden usw. Häufig wird in den Medien und sozialen Netzwerken auch das Bild David gegen Goliath bemüht, wie pfiffige Kleinanleger träge Profis schlagen.
Demokratisierung der Aktienvermögen?
Wie steht es nun mit dem Versprechen, das Vermögen zu demokratisieren, auch die unteren Bevölkerungsschichten endlich an steigenden Aktienkursen teilhaben zu lassen? Der wirklich starke Run auf die Neo-Broker begann Ende 2019. Wie hat sich seither die Demokratisierung der Vermögen entwickelt? Haben die Neueinsteiger und Kleinanleger mittlerweile einen höheren Anteil am Aktienvermögen?
Der S&P 500 stand Ende 2019 bei etwa 3.240 Punkten, Ende März 2021 bei 4.020. Das entspricht einem Zuwachs von 24 Prozent. Laut US-Notenbank besaßen Ende 2019 die oberen 10 Prozent der US-Amerikaner 88,29 Prozent aller Aktien, Ende März 2021 (das sind die letzten vorliegenden Zahlen) gehörten ihnen 88,66 Prozent. Das oberste Zehntel der US-Bevölkerung konnte seinen Anteil in diesen 15 Monaten Run der Kleinanleger auf die Börsen also leicht erhöhen. Das klingt nicht gerade nach Demokratisierung der Vermögen. Entsprechend sank der Aktienanteil der "unteren" 90 Prozent der Bevölkerung von 11,71 auf 11,36 Prozent.
Praktisch überhaupt keine Rolle bei den Aktienvermögen spielen die unteren 50 Prozent der US-Amerikaner, also die Hauptzielgruppe der Neo-Broker. Sie besaßen Ende 2019 0,558 Prozent aller Aktien. Ende März 2021 betrug ihr Anteil 0,561 Prozent. Rundet man auf zwei Stellen hinter dem Komma, blieb ihr Anteil bei 0,56 Prozent, er hat sich also so gut wie nicht verändert. Angesichts der wohl weit über 20 Millionen Neukunden und der in Summe nicht unerheblichen Gelder, die von ihnen in die Aktienmärkte gesteckt wurden, ist das ein recht ernüchterndes Ergebnis.
Die untere Hälfte der US-Bevölkerung besitzt nach wie vor einen verschwindend geringen Teil des Aktienvermögens: Etwa eine von 200 Aktien gehört jemand aus der unteren Bevölkerungshälfte, 199 von 200 Aktien gehören der oberen Hälfte. Die oberen ein Prozent der US-Bürger besitzen 20.000 Milliarden Dollar Aktienvermögen, die unteren 50 Prozent 210 Milliarden. Das sind nach wie vor nicht gerade demokratische Aktienvermögensverhältnisse.
Was ist also durch die Neo-Broker geschehen? Der Zustrom der zusätzlichen Gelder von Kleinanlegern an die Börsen hat die Aktienpreise weiter in die Höhe getrieben, aber zu keiner Demokratisierung der Vermögen geführt. Am 1. Januar 2020 lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 bei knapp 25. Bis zum 1. April 2021 stieg es auf etwa 44. Derzeit liegt es bei 46 und ist damit etwa dreimal so hoch wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre. Die Aktien sind zur Zeit so teuer wie noch nie in der US-Geschichte. (Während der Finanzkrise im 2009 war das KGV des S&P 500 wegen einbrechender Gewinne für kurze Zeit höher als heute. Das lag aber weniger an überhöhten Preisen als an den abstürzenden Gewinnen.)
Man muss heute dreimal so viel für einen erwarteten Dividendenstrom zahlen wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre. Die vielen neuen, jungen, zum größten Teil vollkommen unerfahrenen Kleinanleger werden also mit fragwürdigen Marketing-Methoden in riskante Käufe zu stark überhöhten Preisen getrieben.
Dazu kommen die oben erwähnten extrem günstigen Kreditbedingungen, die viele Kleinanleger in Verschuldung über Lombardkredite (durch Wertpapiere besicherte Kredite) treibt. Das erhöht das Risiko eines Totalverlustes. Außerdem ist bei Robinhood der Anteil der Einnahmen aus dem Optionshandel sehr hoch. Im ersten Quartal 2021 entfielen etwa 60 Prozent aller Handelseinnahmen auf den Handel mit Optionen, also Umsätze mit extrem volatilen und riskanten Spekulationspapieren. Die Kleinanleger gehen also offenbar deutlich überdurchschnittlich hohe Risiken ein. Das kann ein böses Erwachen bescheren.
Analogie zum Immobilienboom bis 2007
Das Neo-Broker-Schema wirkt meines Erachtens wie ein Schneeball- oder Ponzi-System: Die nachkommenden Gelder treiben die Kurse weiter in die Höhe, bis die Blase platzt. Die Letzten beißen die Hunde. Die Vorgehensweise erinnert an die Immobilienblase in den USA bis 2007. Auch damals wurde den unteren Bevölkerungsschichten versprochen, an den Immobilienpreissteigerungen teilnehmen zu können. Die Eigentumsquote sollte erhöht werden und wurde erhöht. Eine ganze Weile ging das auch gut. Von Ende 1998 bis 2005 stieg die Eigenheimquote in den USA tatsächlich von unter 66 auf über 69 Prozent, um dann im Zuge der Immobilienkrise auf 63 Prozent abzufallen. Vor den Lockdowns, Anfang 2020, hatte sie sich wieder auf etwa 65 Prozent erholt. Im Endergebnis ist also durch das Versprechen, die unteren Bevölkerungsschichten am Immobilienvermögen stärker zu beteiligen, das Gegenteil erreicht worden.
Etwas Ähnliches, befürchte ich, wird diesmal wieder geschehen. Geschäftstüchtige Broker aus den gehobenen Bevölkerungsschichten locken die unprofessionellen Kleinanleger mit hochintelligentem Marketing immer stärker in Wertpapierinvestments, entlocken den einfachen Leuten einen ordentlichen Teil ihrer staatlichen Unterstützungszahlungen und verdienen ein Vermögen daran. Die ganzen neuen, unerfahrenen Kleinanleger steigen, historisch betrachtet, zu weit überhöhten Aktienkursen ein. Ihnen wird vorgespiegelt, besonders klug und viel fitter als die etablierten Dinosaurier zu sein.
Ich fürchte, eines Tages wird dieses Kartenhaus einstürzen. Die von den vielen Millionen Kleinanlegern seit eineinhalb Jahren zusätzlich an die Börsen fließenden Gelder befeuern den laufenden, durch die Niedrigzinspolitik geförderten Aktienboom noch zusätzlich. Die Überbewertung wird dadurch noch etwas höher getrieben, die "irrational exuberance" (irrationaler Übermut) verstärkt. Die Bereinigung wird daher noch etwas stärker ausfallen. Absackende Finanzmärkte drücken normalerweise auch die Realwirtschaft mit nach unten. Das sind keine guten Aussichten.
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Zum Autor: Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Bundestagskandidat für die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis). Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de
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